Gedanken zum Tag
„Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“
Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Weinbauer. Er entfernt jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt; aber die fruchttragenden Reben reinigt er, damit sie noch mehr Frucht bringen. Ihr seid schon rein geworden durch das Wort, das ich euch verkündet habe. Bleibt mit mir vereint, dann werde auch ich mit euch vereint bleiben. Nur wenn ihr mit mir vereint bleibt, könnt ihr Frucht bringen, genauso wie eine Rebe nur Frucht bringen kann, wenn sie am Weinstock bleibt. Ich bin der Weinstock und ihr seid die Reben. Wer mit mir verbunden bleibt, so wie ich mit ihm, bringt reiche Frucht. Denn ohne mich könnt ihr nichts ausrichten. Wer nicht mit mir vereint bleibt, wird wie eine abgeschnittene Rebe fortgeworfen und vertrocknet. Solche Reben werden gesammelt und ins Feuer geworfen, wo sie verbrennen. Wenn ihr mit mir vereint bleibt und meine Worte in euch lebendig sind, könnt ihr den Vater um alles bitten, was ihr wollt, und ihr werdet es bekommen. Die Herrlichkeit meines Vaters wird ja dadurch sichtbar, dass ihr reiche Frucht bringt und euch so als meine Jünger erweist. (Johannes 15,1-8)
„Vereint bleiben“, aber bitte nur auf Abstand, ist angeblich das Gebot der Stunde. Manchmal frage ich mich, ob ich die einzige bin, die da ein logisches aber auch logistisches Problem sieht. Wie kann man vereint sein, wenn man getrennt ist? Ist das nicht etwas Grundverschiedenes? Immerhin, werden einige denken, ist die Vereinigung mit Jesus wieder möglich. Denn das ist ja das, worum es in der Eucharistie geht. Wenn ich die Eucharistie kommuniziere, ist mir Jesus so nah, wie es nur irgend möglich ist. Dann ist seit dem letzten Sonntag also alles wieder gut?
Und wie ist es mit dem Frucht bringen? Welche Frucht können wir gerade erbringen? Kranke und Alte können wir immer noch nicht besuchen. Dieses Werk der Barmherzigkeit bleibt weiter auf der Strecke. Was sollen Christen eigentlich tun? Es gibt drei sogenannte Grundvollzüge: Liturgie: Das ist seit letztem Wochenende wieder sehr eingeschränkt möglich. Verkündigung: Wir könnten uns wie Franz von Assisi in den Wald stellen und den Vögeln predigen, allerdings ist das mehr Legende. In erster Linie hat Franziskus Menschen die Kirchen- und Glaubenserneuerung gepredigt. Bleibt die Nächstenliebe. Nächstenliebe besteht neuerdings angeblich aus Abstand halten. Aber ist das so?
Wie geht es eigentlich Verwitweten, die allein leben? Bleiben die durchs Alleinsein gesund? Wie ist es eigentlich mit Kindern, die keinen Kontakt mehr zu Freunden und anderen Gleichaltrigen haben? Bleiben die dadurch gesund, dass sie allein sind, sich nicht bewegen und keine Bildung mehr erhalten?
Unabhängig von religiösen uns spirituellen Fragen, bin ich überrascht, wie fraglos alle darin übereinstimmen, dass in unserer Verfassung offensichtlich ein Recht auf Shopping – denn das wurde ja sehr schnell mit Nachdruck wieder umgesetzt – besteht, aber kein Recht auf Bildung, Arbeitsschutz, Berufsausübung oder Versammlungsfreiheit besteht.
Unser Land und unsere Kirche sind erst ca. 75 Jahre alt. Vor 75 Jahren wurde das Prinzip des Nie-Wieder zum Gradmesser, was geht und was nicht. Ich bin überrascht wie schnell und unhinterfragt es möglich war, Demokratie nicht nur in Europa, sondern auch im Land des Nie-Wieder abzuschaffen.
Vor 75 Jahren hat sich auch die katholische Kirche neuerfunden. Hatte sie zu allem, was in den 20er und 39er Jahren des vorigen Jahrhunderts geschah geschwiegen oder sogar fleißig mitgemacht, präsentierte sie sich im Danach als Institution, die weiß, wie richtiges Leben geht. Alles, was wir volkskirchlich machen, verdanken wir dieser Anfangszeit. Menschen, aus dem Überlebenskampf und der Vereinzelung holen und vergemeinschaften hat sehr gut funktioniert. Da war auch eine Sehnsucht nach Gemeinschaft und Freude. Die Individualisierung der 70er, 80er und 90er hat diese Form des Kircheseins mit großen Fragezeichen versehen. Seelsorger und Theologen, die neue Wege anmahnten, wurden verlacht oder verjagt.
Die Corona-Krise macht in der Kirche offenbar, was vorher schon war, bzw. was vorher nicht mehr war. Die Krise nach dem zweiten Weltkrieg hat die Kirche zum Blühen gebracht. Was wird diese Krise machen? Aktuell hat sie den Prozess „Mehr-als-du-siehst“, das Suchen nach anderen Wegen von Glaubensvermittlung und Kirchenleben beendet. Ist das hilfreich?
Alles, was wir glauben, gründet darin, dass Gott Mensch wurde, um Heil zu bringen. Er kam und ging zu allen. Heilung erfolgte durch Berührung und so haben wir ihn zum Vorbild genommen. Alle unsere Versammlungen – egal ob Gottesdienst, Kinderkatechese oder Bibelkreis hatte mit Berührung zu tun: Berührung des Herzens, Ansprechen der Sinne und Emotionen, etwas, das mit Abstand nicht wirklich gelingt. Nähe und Gemeinschaft sind Kern kirchlichen Lebens, weil sie der Kern aller christlichen Theologie ist.
Was wir unter normalen Bedingungen als heilsbedeutsame Solidarität und wohltuende Gemeinschaft erfahren, wird in der Corona-Krise ins absolute Gegenteil verkehrt. Jede Umarmung oder Berührung wird nun zu einer potentiellen Bedrohung. Wie aber sollen wir unser kirchliches Leben weiterführen, wie die Rede von der heilsamen Berührung glaubhaft machen? Die Logik der Virologen hat sich so sehr in die Köpfe gebrannt, dass wir in den nächsten 10-15 Jahren, bis die Gesamtbevölkerung „durchseucht“ ist, nicht mehr zu einer Normalität von Nähe und Gemeinschaft zurückkehren können oder wollen.
„Mehr-als-du-siehst“ wäre dringend nötig. Unser sakramentales Leben ist dermaßen an eine positive Leiblichkeit gebunden, dass es allerhöchste Zeit wäre, Übersetzung zu leisten in eine neue Zeit, in der das Leben in der Digitaltität stattfindet, weil analoges Leben lahmgelegt bleibt.
Dann wäre die Krise auch Chance. Wenn wir entdecken, dass viele unserer liebgewordenen Formen aus einer anderen Krise mit anderen Herausforderungen stammen und die Menschen unserer Zeit uns anders brauchen, nicht hinter den Türen, hinter denen sich die Jünger im ersten Schock nach Karfreitag und Ostern versteckten, sondern draußen bei den Menschen, die ohne Nähe und Präsenz Jesu Christi nicht zur Fülle des Lebens finden. Wenn wir am Weinstock nicht verfaulen und abgeschnitten werden wollen, müssen wir uns dringend gemeinsam stark machen, gegen die, die eine neue Leibfeindlichkeit predigen und gegen die, die im Gestern die Zukunft suchen. Heute gilt mehr, was Karl Rahner vor 50 Jahren angesichts der Synode der katholischen Kirche in den 70ern schrieb: „letztlich [ist] die Zukunft der Kirche ein Gegenstand der Hoffnung wider die Hoffnung und nicht eine Sache der Futurologie“ und damit liegt sie in unserer Hand.